Kapitel 4

Feder
Auf ihrem Weg zum Schloss Telja, legten sie nur selten eine Pause ein aber häufiger als geplant. Das erste Mal in einer kleinen Ortschaft, wo niemand Fragen stellen würde. Nicht einmal zu dem Mädchen, das sich in dieser Fremde an Marli schmiegte.
Das konnte Richter Beldor seiner Frau zugutehalten. Trotz ihren anfänglich scharfen Worte konnte sie das Kind an ihrer Seite nicht missachten, das nur wenig jünger als ihr eigener Sohn war. Daher versuchte sie das Mädchen zu trösten, wenn die Tränen das kleine Wesen übermannten.
Sie war es auch, die das Kind in eines der hübschesten Kleider steckte, was sie auf die Schnelle fand. Die Amazone zeigte sich über diese Maskerade entrüstet. Immerhin war das Kind keine Puppe.
Miri ignorierte die Proteste der Frau und blühte in Nähe des Kindes auf. Immerhin hatte es sie frustriert nur Jungs zu haben, kein kleines Mädchen wie ihre beste Freundin. Das alles musste nun die kleine Nala ausbaden, die sich zudem in solchen Kleidern unwohl fühlte.
Seine Frau vertrat die Meinung, ein Mädchen von solcher Abstammung, sollte man diese auch ansehen.
Es störte sie nicht mehr das Kind aufgenommen zu haben, dafür fand sie an deren Beschützerin Anstoß. Schließlich konnte man die Amazone nicht einfach verstecken.
„Das nimmt noch ein schlimmes Ende!“, zweifelt sie jedes Mal, wenn sie die große Begleiterin mit dem kleinen Mädchen spielen sah, zu dem sie sich Ero gesellte.
Für ihn war es schön, beiden Kindern beim Spielen zuzusehen. Ero, der seiner neuen Freundin zeigen wollte, was für ein talentierter Junge er schon jetzt sein mochte. Beldor hatte sich gegen seine Frau durchgesetzt dem Jungen Schwertkampfunterricht zu geben.
Miri sah in ihren Bedenken zu oder schimpfte mit dem kleinen Mädchen, weil sie gut hinbekam, das neue Kleid gleich am ersten Tag schmutzig zu machen.
Keiner wollte daran denken, was für ein schreckliches Schauspiel noch folgen würde. Sogar seine Gedanken wurden von der nahen Aufgabe abgelenkt, vor der er stand.
Feder
Richter Beldor nahm Nala nicht auf, um sich irgendeinen Vorteil zu verschaffen, was wohl Marli im geheimen befürchtete. Sie war Nettes Tochter. Für ihn war dieses Mädchen wie eine eigene Tochter. Wann immer Nette Hilfe brauchte, konnte sie auf ihn zählen.
Selbst in seiner langjährigen Zeit als Richter hatte er ein paar kleine Dinge eingefädelt, die ihr und den Amazonen halfen. Alles davon blieb im Verborgenen.
Womöglich ahnt nicht einmal die Amazonenkönigin davon.
Deswegen galt sein Interesse an dem Kind, es vor allem zu schützen. Besonders Nerre, die ihre Schwester gerne zu Fall brachte.
Den Soldaten, denen sie am Eingang zur Stadt begegneten, stellte er das Mädchen als eine Cousine der Frau seines ältesten Sohnes Jos vor. Die Frau an seiner Seite wäre nur eine Dienerin.
Die Wangen seiner Gemahlin röteten sich, ihre Lippen presste sie fest aufeinander. Sie lauerte darauf von den Wachen ein verurteilendes Wort zu hören, das ausblieb.
Richter Beldor besaß einen bekannten Namen. Daher war den Wachen und Soldaten um Schloss und Stadt dessen Familie ebenfalls bekannt. Genau wie Miris Art, nie ein Wort mit ihnen zu reden. Sie empfand Soldaten, sogar ranghöhere Männer, denen ein adeliger Stand gebührte, als unwürdig mit ihr zu sprechen.
Erst nach Bestehen dieser Hürde fielen sie in ihr Gespräche zurück.
„Ich werde nicht zusehen, wie aus Nala eine kleine Prinzessin gemacht wird!“, zischte Marli nah an sein Ohr. „Sie ist die Tochter unserer Anführerin. Eine Amazone.“
„Nala ist zu jung für solche Entscheidungen!“, rief der Richter streng. „Wenn es sein muss, schütze ich sie vor allem, was gegen ihren Willen passiert! Sollte sie selbst den Weg ihrer Mutter gehen wollen, werde ich die Entscheidung nicht infrage stellen.“
Unter normalen Umständen würde der Kutscher die Pferde ohne Umweg zum Haus ihrer Freunde führen. Zu Nettes Familie. Da die Frau nur etwas von der Tragödie um die geliebte Tochter wusste, nicht aber vom Glück eine Enkelin zu haben, rief er dem Kutscher zu, den Weg zu einer guten Herberge einzuschlagen. Er würde mit seiner Familie wie gewohnt bei der Freundin wohnen.
Besonders Ero fiel es schwer, sich von seiner neuen Freundin zu trennen und der Richter musste beiden eintrichtern, nichts von dem Kind oder ihrer großen Begleiterin zu erzählen. Nicht der Freundin oder irgendjemand anderes.
Das war im Moment zu gefährlich.
Extra für dieses Ereignis patrouillierten Soldaten aus allen drei Ländern auf den Straßen. Damit nirgendwo jemand eine verborgene Falle installieren konnte. Oder ein Befreiungsversuch für die Armee aus hauptsächlich Frauen plante.
Dies alles sollte verhindert werden, damit König Teron diesen Funken Hoffnung in den Ländern für immer zerstören konnte.
Fraglich blieb offen, was mit Nette passierte. Dem Mädchen, auf das der König solch eine Jagd veranstaltete. Er war ihr vollkommen verfallen und vielleicht würde für sie ein anderes Schicksal vorgesehen werden. Noch viel schlimmer als ein Tod an der Seite ihrer Kameraden.
Nerre, die ihr siegreiches Heer anführte, interessiert sich nur für ihren eigenen Ruhm. Die Anerkennung von König Teron und die Beseitigung ihrer vermeintlichen Schande. Für den Schmerz ihrer Mutter war sie blind.
In den nächsten Tagen, die der Richter mit seiner Familie im Haus der Freundin verweilte, herrschte eine gedrückte Stimmung. Es gab keinen Tag, an dem die Frau nicht unter einem Tränenmeer drohte zu ersticken.
Miri versuchte alles, die Freundin aufzumuntern.
Sie versagte.
Beide wussten darum, dass nur eines ihr Trost geben konnte. Dieses kleine Mädchen, das vor Nerre geschützt werden musste. Genau aus diesem Grund konnten sie das Kind nicht ins Haus holen, oder beide einander vorstellen.
Nicht gegen den Wunsch der Mutter. Und Beldor war der Einzige, der sie würde besuchen können.
Aber schon gar nicht konnte er es wagen, sollte Nerre die Dreistigkeit besitzen, in dieser düsteren Stimmung ihre Mutter aufzusuchen. Als potenzielle Mörderin der eigenen Schwester.
Die wenigen Momente, die er nicht zusammen mit seiner Frau der Freundin beistand, verbrachte Richter Beldor bei Marli und Nala.
In dieser kurzen Zeit fand die Amazone so viel Vertrauen, ihm von der eigenen Tochter zu berichten. Arela, in Nalas Alter und deren Heim seine Stadt, Ylora, war.
Sobald sie zurückkehrten, musste er unbedingt ein Treffen zwischen Mutter und Kind arrangieren. Wobei er an diesem Punkt seine unschöne Seite zeigte, die Leute in irgendetwas hinein zu zwängen. Wie ein Schuh, der im ersten Moment zu klein wirkte aber mit ein paar Änderungen schon passte.
Außerdem plauderten sie über alles, was ihn interessierte. Die Amazonen. Ihre Geschichte, die sich zum Teil stark gegen die Legenden abhob. Aber auch die neueren Ereignisse. Wie Nettes Wandlung von einer wohlerzogenen jungen Dame, in die große Kriegerin, genauso weise, wie stark.
Die kleine Nette. Er sah sie immer noch als Kind vor sich. Mit den hübschen locken und in prunkvollen Kleidern. Er konnte nicht glauben, dass dieses Kind, was sich in Nala widerspiegelte, schon 30 Jahre alt war und bis vor wenigen Tagen als stolze Königin ihr Volk anführte.
Im Gegenzug dazu berichtete er ihr von den ganzen Menschen, die er alleine dafür verurteilen musste, weil ihre einzige Schuld war, sich zu den Amazonen zu bekennen. Diese Verurteilungen fielen ihm genauso schwer, wie die kommenden.
Feder
Während ihres Gesprächs kam ihnen die Zeit noch fern vor.
Richter Beldor erkundigte sich bei einem der Soldaten von Saron, wann Nerre zurück erwartet wurde. Eine Woche, so hatte es ihnen ein Bote berichtet.
Eine Woche, in der viele auf ein Wunder hofften, genauso Marli, sobald sie mit dem Kind alleine war. Während Beldor hoffte, die Zeit möge sie verschonen. Doch dann hatte alles doch ein viel zu baldiges Ende.
Feder
Am ehesten merkte man es an den Soldaten.
Vom Tor der Stadt aus würde sich der Weg zum Gerichtsgebäude hinziehen. Dort tief im Untergrund wurden Kerker eingerichtet, in denen sich schon jetzt die Leute auf ihre Füße traten. Ein unwürdiger Ort für die Verbrecher, wie sie der König sah.
Zwischen Schurken, Mördern aber auch Dieben, fanden sich einfach Frauen und Männer. In der Not oder wegen eines falschen Wortes hierher verbannt, um auf ihre Hinrichtung zu warten.
Dort sollten die Amazonen untergebracht werden. Für Nette und ihre gefährlichsten Untergebenen sah man die stark bewachten Kerker des Schlosses vor, zu denen der zweite Halt führte.
Dafür stellten Soldaten und Söldner von Beginn an, einen provisorischen Wall auf, sowie eine Bühne für die adelige Bevölkerung. Richter Beldor wurde schon früh von seiner Begleitung, dem Kommandanten, der eigens zu seinem Schutz da war, informiert, dass er die Aufgabe hatte, die Bühne am Markt zu sichern.
Hier war ein Halt vorgesehen. Nach einer Ansprache von der siegreichen Soldatin Nerre – Beldor konnte nur ausspucken, wann immer er sie so sehen musste – würden die Amazonen getrennt werden.
Was das Schicksal für Nette vorgesehen hatte, wussten nur der König und die stolze Soldatin.
Feder
„Es ist eine Schande!“, knurrte Richter Beldor laut, ehe er sich auf den für ihn vorgesehenen Platz niederließ.
So mancher Beobachter könnte fälschlicherweise annehmen, er meinte die klapprige Holzkonstruktion, unter der sich seine große Begleiterin ducken musste, oder die einfachen Holzstühle. Besonders im Letzteren stimmten ihm die Adeligen an seiner Seite zu.
Die Jungs neben ihm schwiegen. Der Platz für seine Frau war verwaist.
Ein kleines Mädchen fand statt ihrer zu ihnen. Mit ihren Händen stützte sie sich auf dem Stuhl auf, lauschend nach dem, was der etwas ältere Junge von sich gab.
Nala und Ero hatten sich angefreundet. Das Herz des Vaters machte einen Satz nach vorne, wenn er daran dachte, dass diese Freundschaft lange anhielt und vielleicht sogar zu mehr führte. Wie er es damals mit seinem verstorbenen Freund besprochen hatte. Eine Liebe, die beide Familien vereinte.
Beide Kinder wurden vom strengen Auge, der großen Frau beobachtet.
Richter Beldor musste sich eingestehen, das Marli gut mit den Kindern umging.
Selbst wenn sich Miri dagegen stellen würde, dieser Frau lange in ihrem Haus ein Heim zu bieten. Sie hoffte, ihr Mann käme bald wieder zum Verstand und seiner Pflicht als Richter nach. Nur Nala wollte sie nicht mehr hergeben. Aber er könnte sich die große Amazone gut vorstellen, indem sie beiden Kindern eine Freundin und Lehrerin war.
Besonders Ero konnte so vermittelt bekommen, dass Bauern nicht nur Diener waren, sondern gleich gestellte Menschen. Dass ihr Leben oft hart war und das Land dringend eine Reformation benötigte. Genau das lag in der Macht der Kinder. Ob nun der einfachen Bauern oder der Adeligen.
Nach dem, was heute passierte, würde sich diese Reformation Jahre zurück schieben. Und nur König Ylias und König Selon wussten, wie sich ihre Söhne entwickeln würden.
Ob sie den Kampf ihrer Väter wie die Generationen zuvor fortführen oder auf einen Frieden drängten.
Doch für solche Gedanken waren die Prinzen noch viel zu klein. König Ylias Sohn war ein Jahr jünger als Ero. Der andere Prinz nur etwas älter.
Trompeten wurden geblasen. Erst nach ihrem Verstummen kündigte ein Ausrufer den Einzug der Armee an. Die Gespräche verklangen für einen Moment, neugierig auf die Amazonen und besonders deren stolze Königin.
Nur Marlis Blick war kampfbereit auf die Gasse gerichtet, aus der sich an vorderster Front sechs Reiter befanden.
Die Tiere drängten ihre kräftigen Leiber in einheitlichem Schritt auf den Platz zu, wo sie nach Anweisung ihrer Reiter zum Stehen kam. Ein Wiehern erklang von dem Kampfross, nahe ihrem Platz. Die dunkle Brust des braunen Pferdes wurde von den unzähligen Narben aus vielen Kämpfen gezeichnet. Genauso wie man auf wenigen freien Stellen der Haut des Reiters erkennen konnte, dass dieser sich nicht vor einem Kampf scheute.
Weiter hinter folgten zwei Träger mit den Fahnen des Königs, die mehrere gut ausgerüstete Soldaten flankierten.
Mit hoch erhobenem Haupt traten sie auf den Platz. Stolz präsentierend ihre Beute, hinter sich herziehend.
Als wären die Frauen und ein paar der Männer gefangene Tiere.
Neugierig tasteten sich die Augen seines jüngsten Sohnes durch die ganzen Leute in der gleichen Rüstung, wie sie auch Marli einst trug. Während sein Vater die Anzahl überraschte.
„Wer von diesen Leuten ist Nalas Mutter?“, wollte der Junge von Marli wissen. Auch der Vater schenkte der Amazone eine Frage.
„Laut meinen Berichten ist euer Heer sehr stark. Es soll Hunderte von Kriegern umfassen. Teils davon aus den Armeen der Könige.“
Wen Richter Beldor hier sah, konnte er teils mit Namen betiteln. Viele der Amazonenkrieger trugen ein hohes Kopfgeld.
Marli schenkte ihm ein Lächeln, bevor sie sich zu dem Kind senkte.
„Dort vorne“, sie deutete auf zwei blonden Frauen. „Nerre und sie sind Schwestern.“
Die Soldatin hatte ihren Helm abgenommen und schüttelte das kurze Haar, mit dem sie nie an Nettes hübsche Mähne heranreichte. Jetzt konnte man sehen, dass die jüngere etwas kleiner war und auf die große Schwester einredete.
Nichts davon kam bei der Amazonenkönigin an, die trotz des geschlagenen Körpers und einiger verbundener Wunden wunderhübsch war. Ihr mit Staub bedecktes Gesicht war von der Sonne gebräunt und nicht wie das so mancher ihrer Schwestern gesenkt.
Egal was ihr Schicksal vorsah, sie würde ungebrochen hinein gehen.
Die strahlenden Augen des Kindes füllten sich mit heißen Tränen.
„Mama“ rief sie leise.
Sofort streckte der Richter seine Hand aus, um das Kind zu trösten. Er sah es als Fehler an aber Marli wollte ihr ein Zeichen geben, dass es dem Kind gut ging. Dabei hatte der Richter gesagt, dass er ihr alles erklärte.
Sein jüngster Sohn trat an das Geländer der Bühne und streckte den Kopf durch die Schlitze.
„Sie sieht gar nicht aus wie du“, rief er leise und Richter Beldor würde ihn zur Ordnung rufen. Doch die anderen Adeligen waren eher im Spott, als ihnen Aufmerksamkeit zu schenken.
Ero schaute zurück. Sofort senkte sich betreten sein Blick.
„Ich meine, unter einer Amazone stelle ich mir eine große Frau vor, so wie du. Aber sie schaut so zerbrechlich aus.“
Marli folgte dem Blick des Jungen hin zu ihren gefangenen Kameraden. Ihr Amazonenherz würde jetzt sicher gerne das Schwert an ihrer Seite ergreifen, um ihnen zur Hilfe zu eilen. Die Pflicht, ihrer kleine Amazonenprinzessin gegenüber, zügelte die Amazone.
Sie konnte nicht unbedacht handeln und musste sich bedeckt halten.
„Wir sind auch keine Amazonen, sondern einfach nur eine Widerstandstruppe“, erklärte sie dem Kind mit ruhiger Stimme. „Viele unserer Männer sind im Krieg gefallen oder im Kampf für unsere Sache, wie auch Nalas Vater. Unserer Kämpfer würden gerne einen solch tollen Lehrer haben, wie ihn dir dein Papa besorgt hat.“
Richter Beldor nahm sich das Mädchen auf den Schoß. Die Kleine vergrub bekümmert ihren Kopf an seiner Brust, ohne den Blick ganz von ihrer Mutter zu verlieren.
Das Kind kniff die Augen zu. Ein Schlag traf die Mutter vor ihr und der Richter meinte schon, sie fest halten zu müssen, damit das Kind nicht losschrie. Dieses zarte Wesen war stärker als so mancher Erwachsene in solch einer Situation.
Ihre Lippen pressten sich fest aufeinander.
Zärtlich strich seine große Hand über das blonde Haar.
Wie gerne würde er Mutter und Kind vor solcher Grausamkeit bewahren, die Nerre hier an den Tag legte.
Sie bedrängte ihre Schwester. Wahrscheinlich um die versteckten Posten zu erfahren. Geheime Höfe, von denen sie versorgt wurden, der Aufenthaltsort ihrer Kinder, die verborgenen Lager ihrer Krieger.
Nette schweig, wie ihre Kameraden. Jeder von ihnen hoffte, alles würde bald enden und wenigstens da wollte der Richter ihnen helfen. Diesen Menschen sollte die Folter erspart bleiben! Egal was er dafür tun musste!
Seine Aufmerksamkeit galt dem Kind, dass ihm plötzlich entrissen wurde.
Marli stellte sich hinter ihn in den Schatten, das Kind blieb unter ihrem Mantel zu den Füßen verborgen.
Als Richter Beldor wieder nach vorne sah, näherte sich Nerre mit zügigem Schritt.
„Guten Tag, Herr Richter“, grüßte sie ihn schon von weitem. „Wie lange ist es her?“
Mit ihrem behandschuhten Finger stupste sie gegen die Nase des jungen Ero.
Dieser sprang verschreckt zurück. Weg von der Frau, die ihrer eigenen Schwester den Tod bringen würde.
„Ero, Jos“, begrüßte sie beide Kinder. „Ihr seid groß geworden.“ Suchend wanderte ihr Blick über die Leute, bis er auf dem leeren Stuhl liegen blieb. „Wo sind Jos und Miri. Dass euer ältester Sohn nicht hier ist, verwundert mich weniger aber Miri besucht bei jeder Gelegenheit meine Mutter. Ich hätte sie hier erwartet.“
So kühl wie Eis. Eine Soldatin, die nach Aufstieg in der Armee ihres Königs strebte. Ein Ziel, dem sie mit diesem Sieg näher kam, auch wenn sie dabei nicht auf die Gefühle der Menschen um sich herum achtete.
„Jos ist bei seiner Frau zuhause. Er findet keinen Gefallen an solchen Spektakeln, wie du wissen müsstest.“ Nette wollte etwas sagen, doch schon sprach der Richter in einem Ton weiter, mit dem er das Mädchen vor sich verstummen lassen wollte. „Meine Frau ist bei deiner Mutter. Sie verkraftet nicht, was du deiner eigenen Schwester antust. Dieser Verrat an deiner eigenen Familie.“
„Meine geliebte Schwester“, keifte sie voller Verachtung los. „Sie ist doch selbst schuld! Was rennt sie auch zu den Amazonen? Sie hätte wissen müssen, dass es dort kein gutes Ende für sie nimmt. Und das, wo meine Schwester Königin hätte werden sollen. Eine Ehre für jede Frau unseres Königreichs. Aber sie spielt lieber die Anführerin dieser Wilden. Erwartet sie da Gnade von mir? Meine Aufgabe ist es, dieses Gesindel zu jagen.“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem gehässigen Lächeln. „Außerdem wurde es Zeit, dass jemand diesem Treiben ein Ende setzt!“
Die Hände der Frau hinter ihm ballten sich zu Fäusten. Ihr ganzer Körper zitterte. Am liebsten wäre sie auf die junge Soldatin losgesprungen, um ihr die Kehle aufzuschlitzen.
Richter Beldor nahm seine Hand nach hinten. Eine leichte Berührung streifte ihr Bein, ehe er den Stoff des Mantels zu greifen bekam. Mit festem Druck daran erinnerte er sie an ihre Pflicht. Den Schutz der kleinen Prinzessin und damit auch Ruhe zu bewahren.
Nerre wandte sich ab. Ihre Schritte stoppten und sie warf noch einen letzten Blick auf die Gesellschaft. Damit auch auf die große Amazone, deren Anwesenheit sich nicht so leicht verschleiern ließ.
Marli hielt den Kopf abgewandt und versteckte so ihr Gesicht vor der Soldatin.
„Nanu, gehört diese Gestalt zu euch?“, erkundigte sie sich. Ihre Augen verengten sich zu einem prüfenden Blick.
„Eine neue Haushälterin“, zog sich der Richter eine Lüge aus dem Nichts, in der Hoffnung diesen Riesen von Frau so zu erklären. Leider lief das nicht halb so gut, wie erhoffte.
Nerre sprang in einem eleganten Satz die Bühne hinauf und war eher als gedacht über dem Geländer vor den Stühlen.
„Ihr werdet nie von Dienern begleitet, wenn euch eine Reise nach Telja führt.“
„Dies ist eine Ausnahme. Ihr wisst, dass wir uns ganz um deine Mutter kümmern müssen. Die Frau soll für die beiden Jungs da sein.“
Richter Beldor erhob die Hand der jungen Frau zu, wurde aber abgeschüttelt.
Was jetzt passierte, ließ sich nicht verhindern.
Nerre streckte ihre Hände nach der Kapuze aus. Marli versuchte auszuweichen. Doch kaum das die Finger der blonden Soldatin den Stoff spürten, hatte sie ihn schon heruntergerissen, um das Gesicht der großen Frau zu sehen.
„Marli.“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln. Ihre stahlblauen Augen nahmen wieder den Blick von kühlem Eis an, mit dem sie ihren Gegner fast erstechen konnte. „Was für eine Freude dich hier anzutreffen.“
„Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit“, gab die Amazone zurück.
„Nerre, lass die Frau gehen“, bat der Richter. „Du hast, was du wolltest. Marli ist für dich keine Gefahr.“
Die Soldatin lehnte sich nach vorne, zwischen den Stühlen des Richters und Per. Dabei stützte sie sich mit ihrem Arm auf der Lehne des Jungen ab.
„Vielleicht habt ihr Recht.“ Weder ihre Stimme noch der Blick nahmen etwas von der Garstigkeit dieser Frau. Ihrer unerbittlichen Hoffnung, ihre Schwester zu stürzen. „Aber sie ist und bleibt eine Amazone. Das heißt, es ist meine Pflicht sie gefangen zu nehmen. Ich würde mich aber erweichen lassen.“
Sie musterte ihr Gegenüber von oben bis unten und Richter Beldor flehte darum, das Kind würde weiter so still bleiben. Dann sprach die Frau die nächsten Worte in einem gefährlich leisen Ton aus.
„Im Dorf sind diese beiden Gören doch dauernd um dich herum gesprungen. Sag mir, wo ich diese Kröten finden und auch Alesa, dann darfst du gehen.“
„Ich weiß es nicht“, antwortete die Amazone ihr. Jeder sah sie schlucken und wie ihr Körper nach hinten drängte. Nur weg von der gefährlichen Frau. „Ich habe mich von ihnen getrennt und später dem Richter als Dienerin angeschlossen.“
„Einfach so?“, forschte Nerre nach.
„Sie kann mit den Kindern umgehen, deswegen fand ich es eine gute Idee.“ Dabei musste der Richter noch nicht einmal lügen. Und auch sein junger Sohn huschte vom Stuhl fort, hin zu der Frau, deren Hand griffbereit auf dem Schwert lag.
Nerre lachte lauthals auf.
„Beldor, ich kenne euch jetzt schon so lange“, rief sie laut. „Denkst du, ich nehme irgendeinem diese dumme Geschichte ab. Du hilfst einer Amazone nicht aus bloßer Güte heraus oder weil du jemanden für deine Bälger suchst? Ist der Grund dieses Mädchen, das ihr nicht von der Seite weicht? Dieser hübsche, blonde Engel.“ Ihre Lippen hoben sich und ihr Gesicht nahm die Fratze eines wilden Tieres an. „Sag es mir, wo finde ich dieses Biest! Wo ist meine süße, kleine Nichte?“
Alle Farbe wich aus dem Gesicht des Richters.
Er erhob sich und wollte nach der Soldatin greifen. Doch diese sprang nach vorne.
Marli handelte sofort. Sie nahm Ero in ihre Arme, danach Nala, um beide Kinder außer Reichweite der Furie zu bringen. Dann sprang sie zurück, der Treppe entgegen. Mit schnellem Schritt war sie von der Bühne herunter, wo sie sich das erste Mal strecken konnte. Und auch ihre kleine Prinzessin außer Reichweite deren Tante auf den Boden absetzte.
Der Mantel flatterte wallend auf und offenbarte das Schwert an ihrer linken Seite.
„Nerre, du bist wahnsinnig“, entfuhr es Richter Beldor. Seine Stimme zitterte beim Gedanken daran, diesen Schatz wieder zu verlieren. Noch mehr quälte ihn die Angst. „Es ist ein unschuldiges Kind. Was wird deine Mutter sagen, wenn sie davon erfährt?“
„Nette steht für den Widerstand gegen König Teron, genauso ihre Tochter. Ich lasse nicht zu, dass mein Sieg über die Amazonen von diesem Gör zunichtegemacht wird!“
„Du weißt, dass ich dieses Kind nicht einfach einem Henker übergebe“, äußerte er seine Furcht. Er wollte nicht, dass Nala solch ein Schicksal erlitt.
„Für mich ist dieses Kind nur ein Stein auf dem Weg. Und du kannst dir sicher sein, dass ich ihn höchstpersönlich zerschmettern werde, sollte sich meine Schwester nicht fügen.“
Also hatte Nerre niemals vor ihre Schwester hinrichten zu lassen. Sie sollte ihre Schuld an der Seite des Königs begleichen, der schon am Tod von Nalas Vater Schuld trug.
Eine größere Strafe konnte sie ihrer widerspenstigen Schwester nicht auferlegen. Und sie würde sich bis zum Schluss dagegen erwehren. Doch es gab eine Möglichkeit. Wenn es die eigene Tochter wäre, mit der man die potenzielle Königin zu blindem Gehorsam zwang.
„Es tut mir leid“, lauteten die letzten Worte, die Marli an Richter Beldor wandte.
Entgegen ihrer ruhigen Art ergriff die große Amazone ihr Schwert. Und ehe jemand eingreifen konnte, lag es eng an Eros Hals.
Mit geweiteten Augen blickte das Kind erst Nerre an, dann seinen Vater.
Die Leute um sie herum hatten nun ganz das Interesse am Einzug der Soldaten mit ihren Gefangenen verloren. Jetzt blickten sie auf das Spektakel, genau wie Nette, in deren schönen Augen blanke Angst um das Leben ihrer einzigen Tochter stand.
„Wenn ihr mir folgt, dann werde ich den Jungen töten“, warnte die Amazone.
„Flieh nur, wohin du willst!“, knurrte Nerre. „Ich werde dich und das Kind finden! Es gibt keinen Platz, an dem ihr euch vor mir verstecken könnt!“
Marli tat einen Schritt nach hinten, dem Nala folgte. Ihren Blick richtete das Kind kurz zur Mutter, in deren Arme sie gerne geflohen wäre. Hoffend darauf, die Mutter würde sie vor allem beschützen.
Sie verstand noch nicht, dass es genau das wäre, was Nerre in diesem Moment am schönsten fände. Mutter und Kind in ihrer Hand.
Um seinen eigenen Sohn machte er sich die wenigsten Sorgen. Marli liebte Kinder. Sie würde dem Jungen nichts tun. Nicht einmal wenn Nerre sie unter Druck setzte.
Die Soldatin verstand es nicht, dafür ihre Schwester.
Hinterher konnte niemand mehr sagen, wie es passierte. Wer die Fesseln eines Teils der gefangenen Amazonen, darunter auch Nettes, zerschnitt. Oder woher ihre Schwerte kamen, mit denen sie die Soldaten umbrachten und ihrer Königin einen Weg bereiteten, auf dem sie zu ihrer Tochter eilen konnte.
Doch sie stand hier, direkt vor ihrer Schwester.
„Ich lasse nicht zu, dass du meiner Tochter etwas antust“, schrie die Frau mit aller Wut einer liebenden Mutter.
Nalas Schreie erklangen, als einer der nahen Bauern sie fortriss. Jemand hatte eines der Pferde zu Marli getrieben, auf dessen Rücken sie jetzt saß. Der Bauer reichte ihr beide Kinder.
Dann trieb sie das Tier mit ihren Schenkeln in Richtung Tor. In ihrem Rücken drei weitere berittene Amazonen, die ihr den Weg nach draußen erkämpfen würden.
„Du würdest doch deiner eigenen Schwester nichts antun“, rief Nerre voller Hohn.
„Da hast du recht, Schwesterherz!“ Auf den Lippen der Amazonenkönigin zeichnete sich ein Lächeln ab. „Ich bin nicht solch eine Schlange wie du, die aus dem Hinterhalt angreift.“
Ihr Blick wandte sich zurück, wo Marli mit ihrer Tochter verschwand. Dann blickte sie sich um.
Die Amazonen waren den Soldaten hoffnungslos unterlegen. Es gab nur diese eine Hoffnung, dass Nala entkam. So entschloss sie sich zu einem von allen Seiten unerwarteten Ablenkungsmanöver.
Nette hob ihr Schwert an.
„Lebe wohl, kleine Schwester!“, rief die stolze Amazonenkönigin, ehe sie sich das Schwert in den Bauch rammte.
Einige der Soldaten machten sich zwar sofort zur Verfolgung auf, der Großteil davon blieb aber hier, bei der verletzten Amazonenkönigin, die selbst so knapp vor dem Tod ihr Lächeln behielt.
Es war die letzte verzweifelte Tat der Mutter, die Verfolgung der Flüchtigen abzuwenden. Mit ihrem Tod, meinte sie, würde das Interesse von Nerre an ihrer Tochter erlöschen.
Und so starb Nette, die stolze Königin der Amazonen, hier vor den Augen aller Adeliger, Soldaten und Bauern.
Als Bindeglied zwischen den Welten.
Eine Adelige, die in ihrer Kindheit in ihren Häusern daheim war. Als Tochter einer angesehenen Familie von Saron, die ihre Königin werden sollte. Stattdessen entschied sie sich im Widerstand für die Bürger zu kämpfen.
Das Geheimnis in ihr Grab mitnehmend, wieso sie dies dort tat und nicht vom Thron aus.
Im Staub liegend, mit geschundenem Gesicht, ohne besiegt zu wirken. In den Armen des Richters, der noch versuchte, die Blutung zu stoppen.
Nerre stieß einen lauten Schrei aus. Keiner wagte zu sagen, ob aus Trauer um die Schwester, oder weil mit ihrem Tod ihr Plan zunichtegemacht wurde.
Feder
Marli floh mit beiden Kindern dem westlichen Grenzland entgegen. Bei diesem Spektakel hoffte sie darauf, dass König Teron alle seine Soldaten ins Schloss gerufen hatte.
Zu Anfang begleiteten sie noch ihre Kameraden. Bis die Soldaten aufholten und sie sich für ihre kleine Prinzessin opferten. Jetzt lag es an ihr, das Kind in Sicherheit zu bringen.
Dann gab es noch Ero, der sich ängstlich an Marli festklammerte. Im Gegensatz zu Nala. Und auch wenn sie den Jungen ins Herz geschlossen hatte, gehörte er zu seinen Eltern. Sie konnte ihn weder zurückbringen, noch mitnehmen.
Sie waren schonen einen halben Tag geritten und erst hier ließ Marli das Pferd ruhen.
„Du bist schon ein großer Junge“, rief sie Ero zu. Er nickte. „Uns werden Soldaten folgen. Wenn du mit dem Pferd in Richtung Telja reitest, dann bist du bald wieder bei deinem Papa.“
Marli grämte es, den Jungen in dieser Fremde alleine zu lassen. Dann noch, wo sein Vater solch einen schlechten Ruf genoss. Sie wollte nicht, dass ihm etwas passiert.
Aber mitnehmen, das ging einfach nicht.
Marli drückte ihm noch einen Kuss auf die Stirn, dann verließ sie mit Nala flink den Ort. Dabei musste sie nicht nur das Mädchen beruhigen, das bitterlich um ihre Mutter weinte, sondern zügelte auch ihre eigene Angst um das eigentlich fremde Kind.
Die Landesgrenze erreichten sie zwei Tage später.
Marli war schon sicher, es würde ihr gelingen, da trat die berittene Grenzwache aus dem tiefen Schatten der Bäume.
„Halt!“, wies der junge Soldat streng an. „Wer seit ihr?“
Sein Schwert hielt er hoch erhoben. Besonders nachdem sein Blick auf ihre linke Seite fiel und ihre Waffe, die dort griffbereit hing.
„Lasst mich und das Mädchen friedlich gehen“, flehte sie den Jungen an. „Ich möchte euch nichts tun.“
„Das kann ich nicht“, rief der Soldat. „Die Grenze nach Miro dürfen nur Händler und autorisierte Personen übertreten. Solltet ihr keine Genehmigung des Königs vorweisen, muss ich euch in Gewahrsam nehmen.“
Die Hände des jungen Soldaten zitterten, mit denen er das Schwert fest umklammert hielt. Es war wohl sein erster richtiger Auftrag. Vielleicht wäre es sogar besser, er würde unter einem Kommandanten dienen, als hier alleine die Grenze abzugehen.
Marli stieß das Kind von sich fort. Dann stellte sie sich dem jungen Soldaten.
Trotz seiner Unerfahrenheit war er sehr gut ausgebildet. Seine Schläge waren ungeheuer schnell und gut gezielt.
„Flieh!“, konnte Marli dem Kind noch zu rufen, das mit geweiteten Augen da stand und ihre Beschützerin ängstlich anstarrte. „Verschwinde von hier und egal was passiert, sag niemanden deinen Namen, oder wo du herkommst.“
Feder
Nala nickte, obwohl sie nicht verstand. Oder ihre Augen von den schweren Tränen brannten.
Sie musste immer auf das hören, was Marli ihr sagte. Ihre Mutter hatte es ihr so angewiesen.
Also tat sie, was die große Amazone ihr befahl. Sie floh tiefer in den Wald. Die Richtung, die Marli mit ihr einschlug. Vielleicht besiegte sie den Mann und dann kam sie zu ihr. Um das Mädchen vor allem zu beschützen, wie sie es immer tat. Genau wie ihre Mutter, die immer zurückkam, egal wie lange der Kampf dauerte.
Tränen kullerten ihre Wangen entlang. Egal wie oft sie es sagte. Ihre Tränen wollten nicht versiegen und das Herz in ihrer Brust machte laut Tock, Tock, vor Anstrengung und Schmerz.
Sie durfte nicht anhalten. Dann würde sie weinen und Nala musste ein starkes Mädchen sein. Für ihre Mutter, damit sie sich keine Sorgen machte.
Tränen schoben sich unaufhörlich aus ihren Augen und verschleierten den Blick des Mädchens. Sie sah die große Wurzel nicht, in der sich ihr kleiner Fuß verfing.
Sie fiel und dann ein starker Schmerz an der linken Schläfe, der dem Kind das Bewusstsein raubte. Die Augen schlossen sich, über ihren Kopf und den Stein tropfte ein schwaches Rinnsal ihres Blutes.
Feder
Ihre Lider fühlten sich schwer an, um den Kopf lag ein fester Druck. Das war das erste, was Nala fühlte, nachdem sie erwachte.
Sofort holten das junge Kind alle Erinnerungen ein. An ihre Mutter und Marli. Egal wie sehr sie darum betete, dass alle zu ihr kamen, wusste ihr Herz, sie sah ihre Familie nie wieder.
Nicht ihre Mutter, nicht Marli und auch nicht Gedana, die im Dorf ihre Freundin war.
Das Kind war nun ganz alleine.
Und so war sie auch nicht umringt von den besorgten Freunden, als sie ihre Augen aufschlug.
Dort saß ein ihr fremder Mann.
Seine Hände rau und aufgesprungen, strichen dem Kind zärtlich über die Wange. Narben zeugten von den vielen Kämpfen, die er in seinem Leben bestritt. Wie auch die Amazonen, von denen so manche diese Zeichen der ruhmreichen Schlachten wie einen Orden voller Stolz trugen.
Dieser Mann dagegen machte ihr Angst.
Er war nicht groß, trug sein dunkles Haar aber in einem wilden Wirrwarr. Um seinen Mund herum entsprang ein dichter Bart, über den die Augen klein und gefährlich wirkten.
Nala zog die Decke höher.
„W-Wo bin ich?“ wollte sie zögerlich von diesem Mann wissen.
„In meiner Hütte“, antwortete er. „Ich habe dich draußen alleine gefunden. Du warst verletzt, also habe ich dich hierher gebracht. Aber sag wo ist deine Mutter oder jemand anderes, zu dem du gehörst? Du kannst doch nicht alleine im Wald herumirren.“
Seine Hände prüften den Verband um ihren Kopf. Sofort zuckte das Mädchen vor Schmerz zusammen.
Am Ende jedoch schüttelte sie betrübt den Kopf.
Sie hatte niemanden mehr. Nicht seit Marli sie fortgeschickt hatte. In diesem Moment verlor sie den letzten Menschen. Und ob sie diese Familie wieder fand, die Nala und Marli in den letzten Tagen aufnahm, wusste sie auch nicht.
Der Mann vor ihr stand auf. Dann trat er einen Schritt zurück.
Mit großen Gesten, die das Kind wohl aufheitern sollten, stellte er sich vor.
„Ich bin ein Ritter voller Ehre und im ganzen Land für meine großen Taten bekannt. Meine Klinge ist da, um jede Maid zu retten, egal, in was für einer furchtbaren Gefahr sie schwebt. Ob es ein Räuber ist, der sie entführt hat, oder ein geschickter Händler sie mit miesen Tricks ausnehmen will. Auf mich kann jede zählen.“
Nala machte große Augen über diese Erzählung, blieb aber weiter stumm.
Sein Oberlippenbart wackelte kurz beim Prüfen ihrer Reaktion. Er hatte auf ein Lachen des Kindes gehofft. Aber selbst dessen Ausbleiben hinderte ihn nicht am Weitersprechen.
„Ich rette jede. Sei es die hübsche Tochter eines Königs, für die sich so manche Sünde lohnt. Eine alte Greisin mit gebrochenem Bein, die ich auf meinem Rücken nach Hause tragen muss. Oder ein so bezaubernder Engel wie du. Bei meiner Ehre als Ritter, ich rette jede von ihnen.“
Eine tiefe Verneigung vor dem Mädchen, als sein einziges Publikum, folgte. Immer noch wartend auf eine Reaktion.
Ein Seufzen drang von ihm, erst dann kam er zur letzten Frage.
„Wie heißt du süßes Ding? Wem habe ich heute das Leben gerettet? Deinen Kleidern zu urteilen müssen deine Eltern wohlhabend sein. Sie machen sich sicher Sorgen, und wenn du mir sagst, woher du kommst, bring ich dich zurück.“
Wieder sank Nalas Blick.
Es gab niemanden mehr, der sich Sorgen um sie machte.
Tränen rannen ihre Wangen hinab. Sofort eilte der Mann zu ihr, dessen Erscheinung eher Räuber rief, als die Ritter, denen sie bisher begegnet war.
Diese trugen silberne Rüstungen, die sogar ihre Köpfe verbargen.
Nala stellte sich vor, darunter wären finstere Monster, die ihr die Familie raubten. Auch wenn das nicht wahr war. Es waren normale Menschen wie sie oder der bärtige Mann.
Und auch wenn Marli ihr eingeschärft hatte, niemanden etwas über sich zu offenbaren, musste sie ihm antworten. Und das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel, war: „Mein Name ist …“
Feder