Kapitel 3

Feder
Ein starker Ruck, ließ die Insassen der Kutsche aufspringen. Eines der Räder war über einen großen Stein gerollt. Diesmal war es knapp. Beinah wäre die Achse gebrochen und hätte ihre Fahrt unterbrochen.
Der Zweispänner sah einen unwegsamen Feldweg vor sich, keine der größeren Straßen, wozu er sonst genutzt wurde.
Die beiden Rapppferde verrichteten tapfer ihre Arbeit, ihr Gespann in die vorgegebene Richtung zu ziehen. Und auch der Kutscher sagte kein Wort, obwohl man seine Zweifel, bezüglich des Weges, deutlich im Gesicht ablesen konnte. An einer Stelle zog sich der Weg sogar so schmal zusammen, dass er die Räder links vorsichtig auf das Feld manövrieren musste und Angst bekam, im weichen Untergrund stecken zu bleiben.
Er sagte nichts, aus Angst, seinen Herren zu erzürnen, der auf jede Verzögerung spekulierte, sie sogar herbei sann.
Die Kutsche wurde von bewaffneten Männern begleitet.
Soldaten, eigens vom König zugeteilt, um die Kutschgesellschaft vor Gefahren zu bewahren.
Vier ritten in Front, während vier weitere sie im sicheren Abstand auf dem Feld flankierten. Im Rücken folgte ein ganzes Heer aus seinen eigenen berittenen Wächtern und denen des Königs gewachsen.
Zur Seite der Kutsche, soweit ihm dies möglich war, ritt der Kommandant dieser Truppe. Dabei versuchte er angeregt mit dem Mann ein Gespräch zu führen, dem dieser Schutz eigentlich dienen sollte.
Wobei das durch manches, sich am Wegesrand auftuendes, Gestrüpp erschwert wurde.
Neben dem Mann saß dessen Frau Miri. Alleine ihr Kleid hatte ihn ein ganzes Vermögen gekostet. Die schmale Frau wirkte in den weit aufgeplusterten Rock mit dessen Gestell und Unterröcken um einiges fülliger, als sie in Wirklichkeit war. Schon die ganze Zeit beschäftigte er sich mit der Frage, wie sie in dieser Mode überhaupt ordentlich sitzen konnte oder die Hitze überstand.
Keine einzige Schweißperle rollte ihr hoch geschnittenes und gepudertes Dekolleté entlang.
Er liebte seine Frau, egal ob in einem Ballkleid oder seinetwegen konnte es auch einfaches Leinen sein. Aber die Mode der Frauen ließ ihn manchmal an einigem zweifeln.
Wieder ging ein holpern durch die Kutsche. Während sich die Kinder an der Seite festklammerten, genau wie er, blieb Miri in ihrer steifen Position verharren.
Dem Ehepaar gegenüber saßen zwei ihrer Kinder.
Per, der gerade sechzehn geworden war und ihr jüngstes Kind Ero, von sieben Jahren. Ihr ältester Sohn Jos blieb bei seiner Frau zuhause.
Wie der Mann meinte, eine kluge Entscheidung. Sonst hätte ihn die Frau des Hauses genauso eingekleidet wie den Rest. Dunkle Anzüge, in denen er sich wie in einem Backofen fühlte, bis oben hin zugeknöpft.
Sogar die Söhne hielten sich tapfer, ohne ihre Mutter wegen der Kleiderwahl kritisieren zu wollen. Wobei besonders Ero es seit Jahren wusste, seine Mutter zu bezirzen. Entweder durch Worte oder einem einzigen kindlichen Blick. Dabei ließ sie dem Nesthäkchen vieles durchgehen, worauf bei den älteren Brüdern früher so mancher Schlag auf den Hosenboden setzte.
Zu seiner eigenen Schande musste er gestehen, dass diese Masche selbst bei dem strengen Richter sehr gut funktionierte. Beide verwöhnten sie den Jungen gerne.
„Was für ein schrecklicher Weg“, empörte sich Miri. Eine Delle im Boden und diesmal durchzuckte selbst seine Frau in dieser steifen Haltung ein Rucken.
Er ignorierte sie und wandte sich dem Mann an seiner Seite zu, der angeregt über die Festnahme der Amazonen plauderte. Seiner Meinung nach war es überfällig, dass jemand etwas gegen diese Plage unternahm, wie er diese Widerstandstruppe nannte.
Der Richter zu seiner Seite – Beldor, wie er hieß, in seiner Funktion als Richter unter einem schrecklichen Namen bekannt -, zeigte sich zustimmend. Sein Inneres füllten Gram und Sorge.
Unter den Gefangenen, die hingerichtet werden sollten – die er hinrichten sollte – befand sich ein Mädchen, das er in Kindertagen oft auf seinen Schoß setzte.
Laut den Erzählungen nahmen ihr die vergangenen Jahre nichts von ihrer bezaubernden Art. Wäre nicht alles schrecklich schief gelaufen, hätte sie womöglich in seine Familie gefunden. Sie und Jos waren eine Zeit lang unzertrennlich.
Genau aus diesem Grund wählte er einen für die Kutsche unsagbar schlechten Untergrund. In der Hoffnung, die Achse würde brechen oder etwas passieren, damit er nicht vor dieser scheußlichen Aufgabe stehen musste.
Ein Nein gab es nicht. Sein König hatte ihn bei der Frage nach seiner Hilfe in eine Falle hinein manövriert, aus der er sich nicht mit zu retten wusste.
Nun war er auf König Terons Einladung und König Selons Bitte hin unterwegs zum Schloss Telja, um seiner Pflicht als Richter nachzukommen und die Gefangenen auch gleich zu richten.
Die Laune seiner Frau konnte nichts davon mindern. Sie freute sich darauf eine ihrer Freundinnen zu besuchen. Über das Schicksal deren Tochter machte sie sich wenige Sorgen. Ihrer Meinung nach würde einer Adeligen nichts passieren. Höchstens einen Klaps auf die Finger.
Wenn sie sich da mal nicht irrte.
Sein Gesprächskamerad rühmte sich gerade ein paar Mitglieder der Amazonen aufgegriffen zu haben, die über die Landesgrenze von Ura überqueren wollten. Richter Beldor nickte ihm stumm darauf zu, ließ auch hin und wieder einen mechanischen Kommentar fallen, sein Blick aber ruhte auf der friedlichen Natur, die keinen seiner hoffenden Gedanken wahr werden ließ.
Kein Achsenbruch, kein plötzliches Unwetter, sogar Räuber wären ihm in dieser Situation willkommener, als dem Einzug des siegreichen Heers beizuwohnen.
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Bei seiner eher beiläufigen Erkundung des Geländes wirkte die Gruppe, in der Nähe eines kleinen Hains erst unbedeutend.
Seine Augen verengten sich und jetzt konnte er auch die Kleidung der Frauen ausmachen.
Recht unvorsichtig dafür, dass die Amazonen eigentlich schlau sein sollen.
Der Kommandant an seiner Seite folgte dem Blick des Richters. In seinen Augen funkelte der Wille, die Frauen dem König von Saron zum Geschenk zu machen.
Richter Beldor wies seinem Kutscher an, kurz zu stoppen, gerade als die Räder ein weiteres Schlagloch erwischten. Seine Anweisung an den Kommandanten zu seiner Seite war umso schärfer.
Er sollte nicht voreilig handeln, zumal die meisten Frauen, ganz anders als die beiden Amazonen in ihrer Kleidung, wohl nie ein Schwert in Händen hielten. Es waren einfache Bauern, die sich in den Schutz der Amazonen begaben und jetzt flohen. Nette musste es kommen sehen haben, sonst wären sie zu Fuß noch nicht so weit. Nur ein paar Pferde standen bei ihnen, mehr als Lastentiere.
Eine der Amazonen, ein Rotschopf, setzte ein mattes Lächeln auf. Sie sah nicht in die Ferne nach möglichen Gefahren, wie ihre größere Kameradin, die sich ebenfalls durch diese Stelle in geringer Entfernung ablenken ließ und dadurch keinen ihrer Beobachter bemerkt hatte. Aber sie wirkte wachsamer.
Der Richter wollte schon das Zeichen zum Weiterfahren geben, als er erkannte, was der Grund ihrer Aufmerksamkeit war.
Seine Lippen verzogen sich ebenfalls zum Lächeln.
Der Kopf eines Kindes verschwand im hohen Gras.
Nein, dort befanden sich zwei Kinder.
Eines der Mädchen konnte man kaum erkennen. Sie war recht jung mit goldenem Haar. Ihre Freundin konnte nur wenig älter sein, nicht viel mehr als sein eigener Sohn. Ihre Arme schlossen sich tröstend um die Freundin.
Wieso wusste der Richter nicht zu sagen. Hatte sie sich auf der Reise etwas getan oder mochte es Kummer sein? Sie ähnelte keiner der Frauen, daher war es denkbar, dass sie im Krieg die Eltern verlor.
Richter Beldor mochte einen harten Ruf tragen, diesen Kindern den einzigen Halt zu nehmen, eine kümmernde Hand, ob verwandt oder nicht, war selbst für ihn zu hart.
Seine Hand richtete sich zur Anordnung der Weiterfahrt auf, hielt in ihrer Bewegung jedoch abrupt inne.
„Dieses Mädchen“, sprach er mit Zweifel. „Erinnert sie dich nicht auch an eines der Kinder unserer Freunde in dem Alter?“
Miri warf nur einen flüchtigen Blick auf beide Kinder, die in der Ferne spielten, dann rümpfte sie auch schon ihre spitze Nase auf eine Art, die er trotz ihrer fast 50 Jahre immer noch lieblich fand.
„Das ist bloß schmutzige Bauernbrut“, lautete ihre direkte und herablassende Antwort.
Richter Beldor lachte auf.
Nicht weil ihre Worte ihn amüsierten, sondern wegen des Gebarens seiner Frau.
Die ganze Zeit über versuchte sie ihr langsam ergrauendes Haar unter dem wundervoll, hellen Braunton zu verbergen, an dem er früher liebte, seinen Kopf zu schmiegen.
An ihrem mittleren Sohn erkannte er viel von seiner Frau. Der ebenso wilde Ton der Haare, die grünen Augen. Und doch wurde Ero ihr beider Liebling.
Auch bei den Kindern war das Interesse geweckt.
„Vater, die Frauen sind doch Amazonen“, rief Per überrascht auf. „Sie müssen Nerres Angriff entkommen sein.“
Sofort krabbelte sein jüngerer Bruder auf seinen Schoß, um den Kopf so weit über die Kutsche zu recken, dass die Gefahr bestand, er würde herausfallen. Die Augen des Kindes weiteten sich vor Staunen.
„Amazonen?“, rief er aus. „Was passiert jetzt mit ihnen? Nehmen wir sie mit?“
„Mit euch habe ich wirklich zwei kluge Burschen“, lobte der Vater beide Kinder, obwohl es eher Pers Augen waren, die voller Schärfe die richtigen Schlüsse zogen.
Dann wandte er sich an die erste Reihe seines Gefolges.
„Bringt mit bitte das Kind! Aber entwaffnet die Frauen höchstens. Ihnen soll nichts passieren!“
Die Männer tauschten kurz unschlüssige Blicke, folgten dann aber gehorsam seiner Anordnung.
Wie erwartet waren die Amazonen trotz ihrer Leichtsinnigkeit immer auf der Hut. Besonders wenn es um die Kinder ging, denen sich jetzt vier Bewaffnete näherten.
Beide Frauen stellten sich vor sie mit gezücktem Schwert und dem Kampfeswillen all ihrer Kämpfer. Die Kinder eilten in die schützenden Arme einer der älteren Frauen.
Egal wie tapfer beide Frauen kämpften, gegen die jungen Soldaten gab es kein Ankommen. Schnell hatten sie beide unter Kontrolle gebracht. Nur einer ging zu dem Kind.
Mit der störrischen Alten, die in ihren jungen Tagen selbst eine der stärksten Amazonen war, rechnete er nicht.
Mit ihren für ihr Alter recht flinken Händen zog sie einen kleinen Dolch heraus. Die Spitze streifte seine Hand, mit der er nach dem Kind greifen wollte.
Auch sie war kein wirklicher Gegner mehr und so entriss der Soldat das Kind aus ihrem festen Griff.
Die Kleine schrie und zappelte in seinen Armen so sehr, dass Richter Beldor mit dem Kind Mitleid hatte.
Noch ehe der Soldat die Kutsche erreichte, war der Richter hinaus gesprungen und ihm entgegen geeilt. Das Kind landete wie eine wertlose Puppe vor den Füßen des Mannes.
„Lasst eure dreckigen Pfoten von ihr!“, schrie die große Amazone ihnen zu, deren glanzloses, braunes Haar zu einem dicken Zopf gebunden war. Ihre braunen Augen, die sich unter einem festen Schlag schlossen, blickten ihn gleich darauf erfüllt vor Hass an.
Dabei musste es so kommen. Dies mochte ein eher selten befahrener Weg sein aber die Frauen boten in ihrer Uniform ein unübersehbares Ziel. Wenn sie nicht schleunigst handelten und ihren Stolz bezüglich ihrer Herkunft ablegten, würden sie ihren Schwestern eher Gesellschaft leisten, als er das Schloss Telja erreichte.
Seine Hand erhob sich zur deutlichen Rüge an die Männer weit ab. Immerhin hatte er ihnen angeordnet, den Frauen nichts zu tun. Das schloss mögliche Schläge ein.
Dann wandte er sich dem Soldaten vor ihm zu.
„Hat dir niemand Manieren beigebracht?“, entrüstete er sich.
Ehe das Mädchen ihre Tränen fortgewischt hatte oder flüchten konnte, hockte er sich zu ihr herunter. Seine für sie große Hand packte nach ihr und zwang das Kind ihn anzusehen.
„Wie lautet dein Name?“, forderte er das Mädchen auf.
Sie antwortete nicht, vergoss nur stumm ein paar Tränen.
„Sag mir deinen Namen!“ Seine Worte waren diesmal deutlicher, drängender.
Die Zähne des Mädchens schlossen ihre Unterlippe ein. Sie wollte und durfte ihm nicht antworten. Das mussten ihr die beiden Amazonen befohlen haben.
„Dieses schmutzige Ding wird einfach nur stumm sein oder zu dumm, um zu antworten“, kam es von seiner Frau Miri, die dieser Szene einen geringen Funken ihrer Aufmerksamkeit widmete.
Bei den Söhnen sah es da schon anders aus.
Per und Ero drängten über die Seite der Kutsche hinweg, um genau auf das kleine Mädchen sehen zu können. Dabei bot der ältere Junge dem jüngeren Halt, damit dieser nicht sein Gleichgewicht verlor.
Nicht einmal auf die Rüge ihrer Mutter wollten sie hören.
Der Richter sah ein, dass es keinen Sinn bei dem Kind hatte. Fand er keinen Schalter in ihr, der ihren Lippen freiwillig die Worte entlockten, würde sie weiter schweigen. Ganz so, wie es ihr die Amazonen angeordnet hatten.
Zu groß war die Angst, von der die kleine Kehle des Mädchens zu geschnürt wurde.
Seine Hand wanderte zärtlich über ihren blonden Kopf. Dann gab er den Männern Anweisung ihm beide Frauen zu bringen.
Stur setzten sich die Amazonen in Bewegung.
Von einer war ihm der Name bekannt.
Melasa, die Tochter der einstigen Anführerin Alesa. Eine alte Frau, die nun keine Gefahr mehr war und ihr einziges Enkelkind ängstlich an ihre Brust presste.
„Verratet mir den Namen des Mädchens!“, forderte er die Amazonen auf. Er ließ von dem Kind ab, das nun hinter die große Frau flüchtet.
Am liebsten würde sie sich zu ihr herunterbeugen, doch das verhinderte ein Schwert, mit dem einer der Soldaten sie im Zaum hielt.
Für einen Augenblick berieten sich die beiden Frauen. Sie sahen sich als eine große Familie, deswegen fiel in ihrem Dorf oft die Bezeichnung Schwester oder Bruder.
Genauso eng verbunden war auch ihr Denken, das sie ohne Worte verstanden, was in der anderen vorging.
„Wieso will der Henker das wissen?“ Die Rothaarige spuckte vor ihm aus.
Henker von Ylora, eine harte Bezeichnung für den Richter, dessen Autorität eher aus Angst vor seinem Richterspruch entwuchs.
„Es interessiert mich“, antwortete er ehrlich und weicher als bei seiner Forderung.
„Schneid diesem Gör und den Gänsen endlich die Kehle durch und lass uns weiterfahren“, drängte Miri auf nicht all zu charmante Art. Ein Verhalten, das die beiden Frauen in ihrer Annahme bestärkte, sie seien für die Adeligen nichts weiter als Tiere oder Müll.
„Ruhe!“, wies er seine Frau zurecht. Die deutlich schmollend die Lippen zusammenpresste und selbst ihm nun keines einzigen Blickes mehr würdigen würde.
„Wir werden mit unseren Kameraden den Kopf verlieren!“, rief die Rothaarige aus. „Wieso sollten wir euch da ihren Namen verraten. Sie ist nur die Tochter einer Kameradin von uns. Und wir ergeben uns mit Stolz in unser Schicksal. Glaubt nicht, dass ihr uns dazu bekommt, im Staub vor euch zu kriechen.“
Manch anderer würde einen Weg wählen, der in den Soldaten brannte, statt hier auf eine Antwort zu warten. Richter Beldor jedoch wollte es im Guten versuchen. Ohne den Frauen etwas anzutun.
Genau deswegen hatte er seinen Weg an den Richterblock gewählt.
Um die Freude an der Qual mancher Menschen seinen Verurteilten zu ersparen.
„Eine Antwort könnte euer aller Leben retten“, sagte er. „Wollte ich euch zum Richtblock bringen, wärt ihr alle schon in Gewahrsam.“
Wieder tauschten die beiden Frauen einen stummen Blick. Und wieder war es Melasa, die sprach.
„Wir sollen dem Henker vertrauen, dass er uns laufen lässt?“, spöttelte sie. Aus ihrem Blick sprach solche Abscheu, dass sie am liebsten eines der Schwerter ergriffen hätte, um ihn damit zu richten.
Ihre Kameradin traute ihm zwar ebenfalls nicht, blieb dafür aber ruhiger.
„Sagt mir, wieso ist es euch so wichtig ihren Namen zu erfahren“, tastete sich die brünette Amazone vor.
„Ihr wisst sicher, in welchem Verhältnis die Familie eurer Anführerin zu meiner steht“, antwortete er ihr. „Ich denke nicht, dass Nette daraus ein großes Geheimnis gemacht hat.“
Ein widerwilliges Nicken folgt sogar von dem Rotschopf. Den Rest hätten sich beide Frauen denken können.
„Das gleiche goldene Haar, dasselbe Lächeln. Wenn ich sie ansehe, muss ich an eure Anführerin denken. Nette war in dem Alter ein ebensolcher Sonnenschein.“
Das Mädchen lugte vorsichtig hinter den Beinen ihrer großen Beschützerin hervor. Selbst Miris Interesse an dem Mädchen schien für einen Augenblick geweckt. Sie wog das Bild ihrer Erinnerung mit dem Mädchen vor sich ab. Ein hübsches, feenhaftes Gesicht umrahmt von Korkenzieherlocken, gegen das der Amazonentochter mit natürlich herabfallenden Wellen.
„Er kennt meine Mama?“, rutschte es der kleinen Amazonenprinzessin heraus. Dabei achtete sie noch nicht einmal auf den Blick der Rothaarigen.
Richter Beldor lächelte zufrieden und kam ohne Umschweife zu seiner nächsten Frage.
„Wie heißt du, Kind?“
Melasa versuchte ihr den Mund zu verbieten, da rutschte es dem Mädchen schon heraus.
„Nala“, antworte sie und versetzte damit die Insassen der Kutsche, bis auf den jungen Ero in blankes Staunen.
Nettes Familie führt über die Generationen hinweg eine Tradition. Jedes männliche Familienmitglied begann mit einem R, jedes weibliche mit einem N. Bei ihrer Mutter und Miris bester Freundin war es damals Zufall. Selbst wenn sie einen anderen Namen getragen hätte, hätte ihren Mann nichts davon abhalten können, um sie zu freien.
Dass Nette eben diese Tradition bei ihrer Tochter weiterführte, erstaunte. Mehr sogar noch. Da der Name des Kindes ebenfalls der von deren Großmutter war.
Nach ihrer Flucht meinten alle, Nette müsste ihre Eltern hassen. Doch zeigte die Namenswahl, dass sie ihrer Familie vergeben hatte. Sie sogar vermisste.
Gleichzeitig wusste er, dass es auch kein Zeichen von Reue zeigte. Nette war die stolze Königin, die ihr Volk nie im Stich lassen würde.
Heiterkeit breitete sich auf der Miene des Richters aus. Er sollte es nicht sagen, fühlte aber Stolz auf dieses einst zerbrechliche Geschöpf, das zur starken Kriegerin geworden war.
„Ihr wolltet uns weiterziehen lassen. Was wird aus eurem Versprechen?“ Die Augen der Brünetten verengten sich zu Schlitzen. Ihre Kameradin dagegen hatte von Anfang an vermutet, nichts von dem sei wahr.
„Ich halte mein Versprechen“, sagte er in einem Ton, den der Richter sonst nur in seinem Gerichtsaal nutzte. „Ihr solltet den südlichen Weg einschlagen. Er liegt fern von irgendwelchen Siedlungen und führt direkt zu Wäldern, in die euch kein Soldat folgen würde, der noch bei klarem Verstand ist. Einer der gefürchteten Räuber hat dort sein Lager. Er lebt dafür die Reichen auszunehmen, da würde er nie einem König ein Geschenk bereiten. Besonders die Kutschen meiner Gäste bevorzugt er als lohnende Beute. Und selbst wenn ich ihn gerne in meinem Richtersaal begrüßen würde, werdet ihr dort für eine Zeit oder länger in Sicherheit sein.“
Sein Blick wanderte nach unten zu dem Kind.
„Nala kann ich nicht gehen lassen.“
„Nein!“, kam es zur gleichen Zeit von den schockierten Frauen. Für sie bedeutete das Mädchen einen Schatz. Jetzt wollte der Richter ihnen dies entwenden.
„Nala gehört zu uns und wir mussten ihrer Mutter versprechen sie in Sicherheit zu bringen“, rief die Brünette. „Wir sind für ihren Schutz zuständig.“
„Das Kind wäre bei mir in Sicherheit“, versuchte Richter Beldor auf beide einzureden.
Nala war unbestreitbar Nettes Tochter und somit ein Mitglied der Familie seines ehemals besten Freundes, zu der er auch jetzt noch regen Kontakt hielt. Würde er sie mit den Frauen gehen lassen, wäre dass vielleicht das Ende für dieses Kind.
Alesa und Melasa waren eine Sache. An Nettes Ruf reichten beide nie heran. Somit wäre ihr Kind für manche ein gefundenes Fressen.
„Das Dorf mag zwar gefallen sein, die Jagd geht dennoch weiter“, predigte er, nicht weit an der Wahrheit vorbei.
Nach diesem Schachzug würden die Könige sich wieder ihren Streitigkeiten widmen. Räuber blieben dann für die Kopfgeldjäger, genau wie die kümmerlichen Reste der Amazonenarmee.
Und auch für die wäre ein Schatz lockend, unter dem der Widerstand von Neuem entflammen könnte.
Egal ob lebendig oder Tod.
„Wenn jemand erfährt, dass Nala die Tochter eurer Amazonenkönigin ist, wird sie keinen ruhigen Moment mehr haben. Unter meinen Schutz wäre sie unerreichbar. Selbst Nerre mit ihrem vor Zorn geschwärzten Herz wird es nicht wagen, das Kind anzugreifen, wenn ich es aufgenommen habe.“
„Melasa“, sprach die brünette Amazone ihre Kameradin an. „Ich fürchte er hat recht. In Ura heißt es, seine Macht ist so groß, dass sie an die des Königs heran reicht. Nala wird dort vorerst in Sicherheit sein!“
Übertriebene Behauptungen!
Reichte seine Macht so weit, würden viele derjenigen, die vor ihn geführt wurden, seinen Gerichtssaal mit einer Begnadigung verlassen, statt von ihm zum Richtblock geführt zu werden.
Das Einzige, was in seiner Macht stand, war ihnen eine schnelle Hinrichtung zukommen zu lassen. Selbst, wenn er davon so verachtet wurde, wie von den beiden Frauen.
Doch sie hatte auch recht!
Befand sich Nala erst einmal in Ura, konnte Nerre toben und ihm drohen, sämtliche Krieger, die König Teron zur Verfügung standen, vor seinem Anwesen zu platzieren, sie konnte dem Kind nichts anhaben!
Die von Unsicherheit überschatteten Worte der Amazone überraschten ihn. Er wusste, dass niemand ihm das Kind einfach überlassen würde. Alles wurde egal, solange sie sich in Sicherheit befand. Nalas Wohl zählte, nichts weiter.
„Du verlangst doch nicht, dass wir diesem Mann vertrauen“, baute sich die kleinere der Amazonen vor ihrer Kameradin auf. „Einem Mann, der so viele unschuldige Seelen mit seinen eigenen Händen hingerichtet hat. Viele unserer Schwestern sind diesem Mörder zum Opfer gefallen. Und ihm willst du allen ernstes Nala anvertrauen?“
Leider konnte Richter Beldor ihre Worte nicht entkräften. Es stimmte, dass sich viele Amazonen in seinen Gerichtssaal verirrt hatten. Mancher Soldat brachte seine Gefangenen auch nach Ylora, nur damit er die Gefangenen richtete.
„Es gefällt mir genauso wenig, wie dir, aber es wird uns nichts anderes übrig bleiben“, sagte sie ruhig und griff in einer beschwichtigenden Geste an die Schulter des Rotschopfs. „Nette würde genauso handeln. Da bin ich mir sicher.“
„Nein!“, entfuhr es Melasa. Mit einem einzigen Schulterzucken entledigte sie sich dem Griff. Ihr Schritt zurück führte sie genau in die Arme eines der Soldaten. „Du bist verrückt! Wir können sie ihm nicht überlassen! Er wird sie nur zu Nettes Familie bringen. Willst du, dass es ihr genauso wie der Mutter ergeht? Dass sie dazu erzogen wird, ein braves Mädchen zu sein, das sich willig in das Bett eines gut situierten Mannes begibt, egal ob sie ihn liebt oder nur der Familie gefallen will.“
Bei diesen Worten musste er sich einmischen.
„Nettes Familie hat durch diese Entscheidung ihre zwei Kinder verloren!“, sagte er streng. „Nette ging zu euch und was aus Nerre geworden ist, haben eure Kameraden erfahren. Selbst wenn Nala ihre Familie kennenlernt. Ihren Großvater hat der Gram ins Grab gebracht, die Großmutter würde diesen Fehler nie wiederholen!
„Er kann noch so viel erzählen, ich glaube ihm nicht!“, knurrte Melasa, wie ein angriffslustiger Wolf, jeden Moment zum Sprung bereit.
Wenn nicht bald etwas passierte, würde sie wohl die Waffe eines der verwirrten Soldaten um sich herum ergreifen.
„Ich weiß auch nicht, ob man solch einem Menschen vertrauen kann“, gab die Brünette ihrer Freundin recht. „Aber seine Worte stimmen. Er ist ein angesehener Adeliger, und wie man hört, soll er König Selon als Freund begegnen. Mit dieser Macht wird ihr dort niemand etwas antun. Es wäre für sie das Beste!“
Melasa warf ihrer Freundin einen warnenden Blick zu, dann dem Richter vor sich.
„Wir geben Nala in deine Obhut“, gab sie sich auf das Drängen ihrer Kameradin geschlagen. „Sollte ihr etwas passieren, dann sorge ich persönlich dafür, dass der Richter seinen Kopf verliert!“
Ein Knurren, das im Wind verhallte. Während sogar der Kommandant an seiner Seite ungeduldig wurde. Es würde nicht viel fehlen, dass er darum bat beide Frauen und auch die Gruppe zu verhaften.
Immer noch glimmte eine wilde Begierde in seinem Blick, diese Amazonen König Teron zum Geschenk zu machen.
Das wollte er nicht riskieren. Genau wie die Amazonen es nicht wagen konnten eine Waffe gegen ihn zu richten. Nicht jetzt und schon gar nicht in Zukunft. Der Richter war immer gut bewacht.
„Nala wird es bei mir gut haben!“, versprach er, in der Hoffnung beide zu besänftigen.
„Wir geben Nala in deine Obhut, Richter.“ Ein Lächeln zog sich über die Lippen der Brünetten, dass er gerne erwiderte. Er war schon längst auf eben diese Forderung vorbereitet. „Ich habe Nette versprochen, auf ihre Tochter aufzupassen. Ich habe nicht vor, mein Versprechen zu brechen. Wo Nala hingeht, werde ich sie begleiten.“
„Gut“, willigte er ein. „Solange du die Waffe nicht gegen mich erhebst, wird es keine Probleme geben.“
„Glaubt mir.“ Die Amazone verzog ihre Lippen zu einer grimmigen Miene. Sogar die hellen Zähne wurden dabei entblößt. „Es wäre mir eine Freude euch das zurückzugeben, was ihr so vielen angetan habt. Nala zuliebe beschränke ich meine Aufgabe darauf, ihr eine gute Beschützerin zu sein.“
„Närrin!“, urteilte der Rotschopf. „Du bist wahnsinnig!“
Das ging dem Richter langsam zu weit.
„Du bist die Närrin, Mädchen!“, rief er mit dem strengen Ton seines Amtes. „Ich könnte ebenso meine Wegbegleitung bitten, die Verhandlungen zu übernehmen. Viele davon brennen darauf ihre Verwandten und Freunde zu rächen, die im Krieg mit den Amazonen gefallen sind. Ich denke, ein Großteil weiß noch nicht einmal, wieso ich euch nicht auf der Stelle töten lassen.“
„Melasa, bring du die anderen in Sicherheit, ich kümmere mich gut um Nala.“ Wieder griff die junge Frau nach der Schulter ihrer Kameradin und wieder wurde sie abgewiesen.
„Tu nicht so vertraut!“, zischte diese. „Wenn du das tust, kannst du dich nicht mehr Amazone nennen! Ich sehe schon, dass du uns in den Untergang führst und das mit der unschuldigen Nala.“
„Bitte gebt ihnen ihre Waffen wieder.“ Die Stimme der Brünetten verriet nichts von dem Kummer, die Freundin zu verlieren. Dafür ihre Augen.
Sie verlor in den letzten Tagen sehr viel. Ihre Freunde, vielleicht sogar Verwandte und jetzt gab es keinen Weg mehr zurück. Mit ihm zu gehen, bedeutete ausgestoßen zu sein.
Der Richter tippte einen der jungen Soldaten auf die gepanzerte Schulter.
Gehorsam schaute er ihn an und in seinem Blick glimmte ein Feuer aus blanker Wut auf.
„Melasa“, richtete er das Wort noch einmal an die Amazone. „Besonders du solltest einen Umweg gen Osten einschlagen. Dort befindet sich ein Dorf, dass soweit mich meine Informationen nicht täuschen, was sie meist nie tun, von euren Verbündeten geführt wird. Du solltest dich dort einkleiden. Es wäre schaden, wenn ich bei meiner Heimkehr euch noch einmal begegnen muss. Dann kann ich keine Gnade walten lassen.“
Melasa machte sich schon daran einen Weg aus den Soldaten zu suchen, da hielt er sie zurück. Die Hand des Richters lag schwer auf der Schulter des jungen Soldaten.
„Sei folgsam und gib dein Schwert meiner neuen Begleiterin, ebenso wird sie dein Ross nehmen“, rief er streng.
Die Augen des Soldaten weiteten sich. Es war kein Blick der Verwirrung, wie es jeder erwartet hatte, sondern blanke Furcht, die sich alsbald in Hass wandelte.
„Sag deinen Kameraden, sie sollen die Schwerter zu Boden werfen“, sprach der Richter ungerührt weiter, ohne die zitternde Hand des Jungen vor ihn zu beachten.
Es hätte nur einer einzigen Reaktion gefehlt, schon wäre die Klinge in seinem dicken Bauch versenkt worden.
„Wie viele sind es? Fünf … oder sechs?“
Sechs Soldaten sprangen aus dem nahen Heer. Ehe ein anderer überhaupt reagieren konnte, waren sie auch schon um Richter Beldor versammelt. Die Schwerter bereit zum Kampf und hoffend jeder von ihnen bekäme eine einzige Chance den Richter zu ermorden.
Doch dieser wirkte so kühl wie das Eis, von dem in ein paar Wochen die Welt überzogen sein würde.
„Ich bin heute in spendabler Laune“, rief der Richter selbstsicher. „Ihr könnt ziehen. Meine einzige Bedingung ist, diese Frauen sicher zu eurem Anführer zu bringen. Ich bin sicher er wird erfreut sein, die einstige Amazonenanführerin Alesa kennenzulernen. Mit ihr reisen ihre Tochter Melasa, sowie ihre Enkeltochter, wenn ich richtig schließe.“
Die Amazone schnaufte getroffen auf.
Es war deutlich, dass sie ihm ein Fluch an den Kopf werfen wollte, doch sie hielt sich zurück.
„Woher?“, wollte der Junge vor ihm wissen, dessen Schwertklinge jetzt zu Boden sank. „Woher wisst ihr, dass wir zu Morlo gehören?“
„Ich habe meine zuverlässigen Quellen“, rief der Richter mit einem selbstsicheren Grinsen im Gesicht.
Gegen ihren eigenen Willen und auf Anweisung des jungen Soldaten ließen die Männer ihre Waffen sinken.
Es bedurfte eines Zeichens ihres Anführers, schon entfernten sie sich. In ihrer Begleitung die junge Amazone Melasa. Sie warf ihrer Kameradin einen letzten Blick zu, der erneut deutlich sagte, was für einen Fehler sie da beging.
Nala streckte ihre kurzen Arme nach der Frau aus, die ab jetzt nicht mehr zu ihrer Familie gehörte.
Das Mädchen verstand nicht, wieso sie sich von ihnen und der etwas älteren Freundin trennen sollte. Noch dazu gab sie das Mädchen zu dem älteren Jungen hoch in die Kutsche.
„Bevor ich mich in die Hände Unbekannter gebe, forsche ich genau nach“, richtete er ein tiefes Grollen an die Männer. „Von jedem kenne ich die düstersten Geheimnisse und auf viele von euch könnte das Gefängnis warten, sollte es jemals herauskommen. Deswegen vergesst, was hier passiert ist, genau, wie ich mein Wissen nicht an den Tag bringen werde.“
Seine Männer traten aus der Masse heraus, dicht um die Kutsche herum. Sollte jemand etwas Falsches tun, müssten sie erst an ihnen vorbei.
Nach dieser Rede setzte er sich wieder in die Kutsche.
Miri wirkte nicht beruhigt, eher das Gegenteil. Nicht nur, dass ihr Mann eine Amazone mitnahm, er hetzte auch noch die Soldaten gegen sich auf. Männer, die sie alle eigentlich beschützen sollten.
Die Jungs ließen sich dagegen nicht aus der Ruhe bringen. Forschend rutschte Ero zu dem kleinen Mädchen, dem in den letzten Tagen so viel widerfahren war. Erst der Verlust ihrer Mutter, jetzt wurde sie auch noch ihren Freunden entrissen.
Nur die brünette Amazone war noch bei ihr, die hoch auf dem Ross saß.
Ihre Hand tätschelte tröstend den Kopf des Kindes. Kurz darauf setze sich die Kutsche wieder in Bewegung.
„Wie heißt Ihr?“, erkundigte sich Richter Beldor.
„Marli“, antwortete ihm die Amazone.
Er griff in ein Fach bei der Kutsche, wo ein alter Mantel lag. Nichts, was er einem Gast anbieten würde. Es reichte aber bis in die nächste Stadt, um die Rüstung der Amazone vorerst zu verbergen.
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Das Kind in den Armen der Frau zitterte in Angst, die Soldaten könnten es genauso enteisen, wie schon die Freundin. Dabei sprach sie immer wieder beruhigend auf ihre Enkelin ein.
Selbst als sich die Pferde in Bewegung setzten und die Kutsche, samt ihrem Anhang in der Ferne verschwand, ließ sich das Kind nicht beruhigen.
Sie zitterte unaufhörlich weiter, ihre Augen waren gefüllt mit den Tränen um ihre verlorene Freundin.
„Nala“, schluchzte sie. „Wieso haben sie sie mitgenommen?“
Ihre kleine Prinzessin war noch zu jung, um alles zu verstehen. Die Gefahr, in der sie sich hier täglich befunden hatte und die Angst der älteren Frau, sie könnte mit genau solchen Scheuklappen aufwachsen, wie es ihre Mutter tat. Dennoch setzte sie ein zuversichtliches Lächeln auf, bevor sie mit ihrer Enkelin sprach.
„Er ist ein Freund ihrer Mutter, du weißt doch, dass Nette nicht in unserem Dorf geboren wurde.“
„Aber Nala! Ich will, dass sie zurückkommt!“ Das Mädchen drückte einen weiteren Schwall Tränen aus ihren Augen.
„Glaub einfach daran, dass sie wieder zu uns zurück finden wird.“ Alesas Hände strichen tröstend über den Rücken des Kindes. Sie hatte gesehen, das Marli mit ihnen ging.
Sollte der Richter wahrlich solch ein ehrenvoller Mensch sein, wie ihr Nette berichtete, würde sie dem Kind von ihrer Herkunft berichten können. So konnte sie später selbst entscheiden, welchen Weg sie ging. Und Alesa hoffte, es würde nicht das träge Leben eines Adeligen sein, was sie lockte.
„Er wird sich gut um deine Freundin kümmern.“
„Meinst du?“, kam es im giftigen Zischen einer Kobra von ihrer Tochter Melasa. „Marli ist töricht, wenn sie glaubt, der Richter würde sie in der Burg Telja nicht als eine Gefangene ausliefern.“
Die junge Frau kickte in ihrer Wut einen Stein weg. Dabei traf sie beinah einen der Männer am Kopf, der in der Rüstung eines Soldaten von König Selon zu ihnen kam.
Sein Haar war so dunkel wie die Nacht, die Augen dagegen hell wie ein nebelverhangener Morgen.
„Sie reißt Nala in ihr Verderben! Und was kann ich tun? Soll ich ihnen vielleicht hinterher, um das Kind aus den Fängen dieser Barbaren zu reisen?“
„Das hat keinen Sinn“, sagte der junge Mann mit den hübschen Augen. Er war nur etwas jünger als ihre Tochter.
Jetzt hockte er sich in ihrer Nähe auf den Boden, den Blick ließ er spähend in die Richtung wandern, wo auch der letzte Soldat verschwand.
Zuerst prüfte er alle Richtungen auf mögliche Feinde und skizzierte dann einen Wegeplan für sie und seine Leute auf die Erde.
„Der Richter reist mit 20 seiner eigenen Leute. Noch mal 30 wurden ihm vom König zugeteilt. Du müsstest dich in der nächsten Stadt in ihr Nachtquartier schleichen, das überaus gut bewacht wird. Der Richter hat den meisten Schutz für seine Familie angeordnet. Er selbst wird wohl nur den Kommandanten bei sich haben, wenn er abends nach den Pferden schaut.“
Alesa lächelte interessiert.
„Es war euer Plan genau dann anzugreifen“, schloss die Amazone.
„Nicht in dieser Stadt“, meinte der junge Mann. „Der Stall liegt dort zu offen. Nur Felder, über die man jeden Feind schon in der Ferne erblickt. Aber der nächste Gasthof nahe der Landesgrenze bietet gute Möglichkeiten, sich anzuschleichen.“
„Sollen wir es doch noch umsetzen?“, verlangte einer seiner Kameraden zu erfahren.
In seiner Antwort verwischte er die Skizze zu seinen Füßen.
„Es hat keinen Sinn!“, sagte der Mann. „Beldor weiß nun von unserem Vorhaben. Er wird es nicht dazu kommen lassen, uns einen Angriffspunkt zu bieten. Tun wir es doch, sitzen wir in der Falle.“
„Wir hätten ihn sofort angreifen sollen, als sich uns die Möglichkeit bot“, knurrte ein anderer der Männer. „Doch unser Anführer meinte, wir sollen ihn am Leben lassen. Dabei war er es, der alle Chance hatte, den Bastard die Kehle aufzuschlitzen.“
Alesa lachte.
Sie hatte schon vieles über diesen Mann gehört, der im Land als Henker von Ylora bekannt war.
„Du lachst, während unsere Zukunft in den Händen solche eines Übels liegt?“, entrüstete sich Melasa.
„Liebste Tochter“, meinte sie. „Nette hätte es nicht anders gewollt! In seiner Obhut ist das Kind wohl verwahrt!“
Immerhin gründet seine ganze Hoffnung darauf, dieses Kind würde erwachsen werden. Um das Versprechen zweier Männer zu erfüllen, das mit Nettes Heirat zu zerbrechen drohte.
Sie schwieg über dieses Wissen um den Richter.
Nette hatte ihr wahrlich viel erzählt. Nicht nur über die eigene Familie und ihre sorglose Kindheit. Auch von diesem Mann berichtete sie voller Liebe, wie für einen Vater.
Ein Richter, der im Gerichtssaal die volle Strenge seines Amtes walten ließ, ohne für irgendjemanden eine Ausnahme zu machen. Nicht für Geld oder den Tränen der Familie.
Von seiner oft strengen Hand im Heim, aber auch der Liebe zu seiner Familie, in der sie sich immer wohl fühlte. Ihre Freundschaft zu dessen ältesten Sohn wie anfängliche Pläne für eine Hochzeit zwischen beiden.
Sie verstand selbst nie, wieso ihr Vater dem Werben des Königs nachgab, während sein Bestreben doch immer darin bestand, eine seiner Töchter mit dem Sohn seines besten Freundes zu vermählen.
Wieder spien die Männer Flüche gegen den Richter aus und wie nah sie ihrem Ziel waren.
„Beldor zu töten macht keinen Sinn!“, lautete ihre Meinung. „Er ist ein Mann, der seine Arbeit zu ernst nimmt, kein wahrer Feind! Die, die ihr töten müsst, sind die drei Könige! Sie wärmen ihren Po auf dem Thron, ohne einen Blick auf die wahren Probleme ihrer Bürger zu werfen. Sie sind es, die ihr stürzen müsst!“
„Ihr Amazonen seit ein komisches Pack!“, urteilte der junge Anführer. Er erhob sich. „Kommt jetzt! Mein Vater wird wissen, was er mit euch anfangen kann, wo der Henker euch doch zu ihm schickt.“
Der Dieb Morlo war auch bei ihnen eine Berühmtheit. Anders als viele kleinere Diebe war es ihm nicht egal, wer sein Opfer wurde. Er suchte diese bevorzugt unter den reichen Bewohnern, statt plündernd und mordend die Bevölkerung zu beuteln.
Wie einst ihre Heldin, die nie eine Hand gegen die hungernde Bevölkerung erhob.
Genauso wie sie es eine Freude nannte, den viel genannten Richter zu erleben, war es für sie, diesen Dieb einmal kennenzulernen.
Das würde noch eine interessante Möglichkeit ergeben.
Feder